Stimme zur historischen Erwachsenenbildungsforschung
Jörg Dinkelaker (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Erinnerte Erwartungen
Plädoyer für eine Geschichte der Zukunft
Eine Stimme zur Geschichte der Erwachsenenbildung von Jörg Dinkelaker 1/2020
Erwachsenenbildung ist eine Praxis, die sich vermittels ihrer Zukunftsentwürfe konstituiert. Sie ist ohne die Erwartung einer Zukunft nicht realisierbar, in der sie einst zu dem werden kann, was sie gegenwärtig zu sein anstrebt (so bspw. bei Stephani 1813, Flittner 1920, Picht 1968, Tietgens/Mertineit/Sperling 1970, Faulstich-Wieland/Nuissl/Siebert/Weinberg 1998, Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, Lassnig 2015). Schreitet die Zeit voran, kommt die Erwachsenenbildung aber nicht in dieser von ihr erwarteten Zukunft an, sondern sie findet sich in einer neuen Gegenwart wieder, die sich über neue Zukunftserwartungen definiert.
Die Frage, wie sich die Zukunftserwartungen der Gegenwart zu den Zukünften der Vergangenheit verhalten, wird dabei in der Regel vernachlässigt. Nur selten kommt es zur Klärung der Frage, was eigentlich aus den Zukunftserwartungen der Vergangenheit geworden ist. Bisweilen ähneln die vermeintlich neuen Erwartungen vielmehr verdächtig den alten. Bisweilen geraten aber auch alte Zukunftsentwürfe in Vergessenheit, obwohl ihnen eine Bedeutung für die Gegenwart zukommen würde. Ein bilanzierender Abgleich der Zukunft der Gegenwart mit den Zukunftsprojektionen der Vergangenheit wird dagegen nur in Ausnahmefällen vorgenommen. So kann sich kein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit von Zukunftserwartungen entwickeln.
Nicht allein aus historischem Interesse, sondern zunächst im Interesse einer gegenstandsangemessenen Theorie der Erwachsenenbildung möchte ich dafür plädieren, der Geschichte der Zukunft der Erwachsenenbildung mehr Beachtung zu schenken. Das würde bedeuten, dass bei historischen Analysen dezidiert nach den die vergangenen Situationen strukturierenden Zukunftsmodellen gefragt würde, und dass bei der Thematisierungen gegenwärtiger Zukunftsvorstellungen dezidiert ihre Geschichte mit Untersuchung fände. Im historischen Vergleich unterschiedlicher Konstellationen der Erwachsenenbildungsgeschichte ließe sich dann auch herausarbeiten, inwiefern und wie sich Erwachsenbildung als eine Praxis der Zukunftsgestaltung konstituiert (vgl. auch Schäffter 2012, Wittpoth 2001) und was dies für eine Theorie der (Geschichtlichkeit der) Erwachsenenbildung bedeutet. Anhand der Beiträge zur Jahrestagung der Sektion 2019 wurde für mich das – bislang uneingelöste – Potential einer solchen Geschichte der Zukunft erkennbar.
Die Arbeit an ihr würde Modelle der Zeitlichkeit voraussetzen, in denen die Vergangenheit nicht „als Vorlauf der Gegenwart“ (Hölscher 2017) betrachtet und die Zukunft nicht als das verstanden wird, was sich im Anschluss an die Gegenwart ereignet. Vielmehr müsste man davon auszugehen, dass jede Gegenwart (damit auch alle vergangenen und zukünftigen Gegenwarten) ihre eigene Vergangenheit, ihre eigene Gegenwart und eben auch ihre eigene Zukunft aufweist.
Literatur
H. Faulstich-Wieland/E. Nuissl/H. Siebert/J. Weinberg (Hrsg.) (1998): Zukunft der Erwachsenenbildung: Visionen, Utopien, Szenarien. LITERATUR- UND FORSCHUNGSREPORT WEITERBILDUNG, Nr. 41.
Flitner, W. (1929[1982]): Das Problem der Erwachsenenbildung. In: ders.: Erwachsenenbildung. Paderborn: Schöningh, S. 81-96.
Hölscher, L. (Hg.) (2017): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 179-220.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000): Memorandum über lebenslanges Lernen. Brüssel.
Lassnigg, Lorenz: Modernisierung, Reflexivität, Globalisierung. Überlegungen zur Zukunft der Theorie und Praxis von Erwachsenenbildung – In: Magazin Erwachsenenbildung.at (2015) 25, 13.
Picht, G. (1968): Erwachsenenbildung – die große Bildungsaufgabe der Zukunft. In: Merkur 22, H. 3, S. 193–208.
Schäffter, O. (2012): Lernen in Übergangszeiten. Zur Zukunftsorientierung von Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. In: Sabine Schmidt-Lauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster: Waxmann, S.113-156.
Stephani, H. (1813): System der öffentlichen Erziehung. 2. Auflage. Erlangen: Palm.
Tietgens, H.; Mertineit, W.; Sperling, D. (1970): Zukunftsperspektiven der Erwachsenenbildung. Braunschweig: Westermann.
Wittpoth, J. (2001). Erwachsenenbildung und Zeitdiagnose: Theoriebeobachtungen. Bielefeld: Bertelsmann.